Könnte es sein, dass sich das Lebensmittel Nr. 1 im örtlich überdimensionierten Verteilnetz aufgrund der geringen Fließgeschwindigkeit mit Ablagerungen angereichert hat, die die Schutzschichtbildung besonders in den Kupferrohren der Hausinstallationen blockierten?
Seit einigen Jahren diskutieren Fachwelt und Medien das Mysterium „Holsterhausen“. Mysterium, weil dem ersten Anschein nach ausschließlich das Wasser aus diesem Wasserwerk der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft mbH den Installateuren und den Beziehern den Nerv raubt und der Lochfraß in den halbharten Kupferrohren Gutachter und Gerichte beschäftigt.
Mysterium, weil laut Wasseranalysen am Gewinnungsort das Medium die Grenzwerte der TrinkwV einhält und sich in den letzten Jahrzehnten auch nicht verändert haben soll. Mysterium, weil die perforierten Kupferrohre der Norm entsprechen und an ihnen keine Besonderheiten auffällig sind. Bis auf die Löcher… Mysterium, weil kein Gutachten von klaren Installationsfehlern spricht. Trotzdem muss der Handwerksbetrieb nach Werkvertragsrecht dem Kunden als Vertragspartner gegenüber zunächst gewährleisten.
Realistisch klingende Hypothese
Was zerstört also die Leitungen aus Kupferrohr? Nun keimt ein Verdacht auf, der fast schon eine Grobfahrlässigkeit, unter anderem der eingespannten Gutachter, vermuten lässt. Gleichgültig, ob er sich erhärtet – er hätte in jedem Fall an- oder wegdiskutiert werden müssen: Offensichtlich hat niemand den Einfluss des öffentlichen Transportnetzes auf das Wasser und damit seine Eigenschaften am Eingang in die betroffenen Hausinstallationen untersucht. Derartige Analysen wurden jedenfalls bisher nie in das Thema einbezogen, obwohl der DVGW die Versorger anmahnt, den Einhalt von Grenzwerten auch im Verteilnetz zu kontrollieren und Überhöhungen „unverzüglich der zuständigen Behörde zu melden“.
Oder sagen wir so: Den zuständigen Behörden (Gesundheitsamt der Stadt Dorsten) liegen Messungen mit erheblichen Grenzwert-Überhöhungen vor, doch hat man die von Seiten des Amts nur hygienisch, nicht korrosionstechnisch bewertet. Um ihre korrosive Bedeutung hätten sich die Lochfraß-Betroffenen (Gutachter/Gerichte, Wasserversorger, Kupferrohrindustrie) kümmern müssen. Die brachten jedoch in ihren Stellungnahmen und Wortbeiträgen nicht zur Sprache, dass sich das Trinkwasser im Strang Holsterhausen auf dem Transport vom Wasserwerk zu den privaten Wasseruhren vermutlich wegen einer Abweichung vom Üblichen in diesem Ast des RWW-Netzes massiv eintrübt, also Verunreinigungen aufnimmt. Wahrscheinlich aufgrund der abgesperrten Hydranten zur ehemaligen Zeche Fürst Leopold in Dorsten.
Leopold Fürst zu Salm-Salm, Kaufmann und erbliches Mitglied des preußischen Herrscherhauses, besaß vormals das Verfügungsrecht über die örtlichen Bodenschätze. Seine Kohlenzeche im Stadtteil Hervest förderte von 1913 bis 2001. Damit ging natürlich ein erheblicher Wasserverbrauch einher. Das heißt, die Nennweite der öffentlichen Leitung aus duktilem Gusseisen bewegte sich bis nahe einem Meter.
Als die Zeche vor 15 Jahren schloss, wurde das Netz nicht zurückgebaut, das soll erst vor kurzem geschehen sein. Eine Kundeninformation des RWW vom 17. Mai 2013 ist ein Indiz dafür: Der Versorger macht seine Abnehmer darauf aufmerksam, dass „unser gesamtes Rohrnetz in Dorsten-Hervest in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai gespült wird“. In Dorsten-Hervest stand früher die Zeche Fürst Leopold. Also schlich das Trinkwasser wohl mehr, als es floss, in dem viele Jahre überdimensionierten Rohrsystem zu den Haushalten.
Zur Durchflussgeschwindigkeit in kommunalen Netzen enthalten das DVGW-Regelwerk beziehungsweise konkret die Arbeitsblätter W 400-1 und W 216 zwar keine zwingende quantitative Vorgabe, aber sie verlangen, dass die Trinkwasserverordnung mit ihren Parametergrenzen eingehalten wird:
„Für die Wasserqualität im Wasserverteilungssystem gelten TrinkwV und DIN 2000… Wasserverteilungssysteme müssen so geplant werden, dass Stagnation minimiert wird, da diese zu einer gemäß TrinkwV unzulässigen Beeinträchtigung der Wasserqualität führen kann. Geringe Fließgeschwindigkeiten begünstigen die Anreicherung des Wassers mit Korrosionsprodukten und der Leitung mit losen Ablagerungen, in deren Folge Trübungen (Braunwasser) auftreten können. Anfällig für solche Anreicherungen sind Leitungsabschnitte mit dauerhaft niedrigem Durchfluss (z. B… überdimensionierte Leitungen). Die in Leitungen anreicherbare Menge an losen Ablagerungen nimmt mit abnehmender Fließgeschwindigkeit exponentiell zu.“
Seit dem Tag also, als der Großverbraucher Zeche Fürst Leopold zur letzten Schicht einfuhr, blieb vermutlich dem Trinkwasser viele Jahre überreichlich Zeit, sich im jetzt überdimensionierten Kanalnetz mit allem Möglichen an Ablagerungen vollzusaugen. Die Ereignisse decken sich. 2001 machte das Kohlebergwerk zu, und genau zu diesem Zeitpunkt kam die halbharte Kupfersorte in den Handel und in die Häuser.
In den frühen ersten Jahren hielten sich die Wasserschäden in Grenzen, weil zum einen die Gussleitungen aus der Zeit der Betriebsphase noch relativ sauber gewesen sein dürften und sich zum anderen der Lochfraß bis zum Durchbruch der Kupferrohre über viele Monate hinziehen kann. Nach wenigen Jahren dürfte es jedoch an Korrosionsprodukten nicht gemangelt haben. Laut den Tabellen zur Rohrnetzberechnung vervielfacht sich die Rauhigkeit angerosteter Gussrohre auf 4 mm Tiefe. Irgendwann platzen die Schichten ab und zerbröseln.
Zu große Maschenweite
In den meisten der vom Lochfraß betroffenen Großobjekte (Altenheime, Krankenhaus etc.) trennt zwar ein Wasserfilter das kommunale vom privaten Netz. Nur beträgt dessen Maschenweite entsprechend den Regeln der Technik 100 Mikrometer, nicht weniger. Kleinere Partikel lässt der Schmutzfänger mithin durch, etwa abgelöste Korrosionsteilchen. Vor allem für neu installierte metallische Rohre der Hausinstallation stellen sie eine Gefahr dar. Lagern sie sich auf der noch blanken Rohrinnenoberfläche ab, verhindern sie an dieser Stelle den Zutritt von Sauerstoff. Es kann sich keine Schutzschicht bilden, mit Lochfraß und Muldenkorrosion als Ergebnis.
Das RWW war sich wahrscheinlich der Folgen für Kupferrohre durch die späte Anpassung der Transportrohre gar nicht bewusst. Ein Sprecher auf die Frage des SanitärJournals, was man in den letzten Jahren in Dorsten am Leitungsnetz getan habe: „Da müsste man genau in den Unterlagen nachschauen. Das RWW-Netz ist mehr als 3.000 km lang, es wird immer irgendwo dran gearbeitet.“
Der Fachverband SHK NRW sieht sich weiterhin gezwungen, für diese Region den Anlagenbauern einen Verzicht auf Kupferrohr für Trinkwasser-Installationen zu empfehlen. Dem kommen die Betriebe nach, doch sind davon natürlich die Gewährleistungsansprüche der Auftraggeber von zum Teil 500.000 Euro, wie in einem Krankenhaus, nicht betroffen. 17 Handwerksunternehmen haben sich deshalb zu einer konzertierten Aktion zur „Innungsmitglieder-Vereinigung SHK-NRW“ zusammengeschlossen, um sich gemeinsam gegen die Schuldzuweisung zu stemmen.
Den Trumpf mit der Zeche Fürst Leopold drückte ihnen das Gesundheitsamt der Stadt Dorsten in die Hand. Das misst und archiviert im Rahmen der turnusmäßigen Hygienekontrollen (Legionellen) in öffentlichen Einrichtungen nicht nur die Keimzahlen, sondern unter anderem auch die Trübung des Trinkwassers. Die ist ein Indikator für Verunreinigungen und nach TVO beim Wasserwerk auf den Höchstwert 1,0 NTU oder FTU (Formazine Turbidity Unit) begrenzt.
Empfehlenswert: Im Trüben fischen
Gemessen wird die Lichtdurchlässigkeit beziehungsweise die Lichtstreuung. Kleine feste Partikel, die ins Wasser gelangen, verändern die Lichtverhältnisse. In der Regel handelt es sich um ungelöste, anorganische Mineralien oder um organische Partikel. Die Gesundheitsbehörde dokumentierte in 2005 für beispielsweise Holsterhausener Wasser in Gladbeck-Brauck einen Trübungswert von 7,0.
Reinstes Wasser kennzeichnet ein NTU-Faktor 0,015, am Eingang ins Transportnetz liegt er im Mittel zwischen 0,1 und 0,3. Zur gestatteten Trübung am Wasserhahn sagt die TVO nichts. Man kann folglich nicht direkt von einer Überschreitung eines Grenzwerts am Auslauf sprechen, wohl aber von einer Überschreitung am Hauseingang, siehe die weiter vorne stehende DVGW-Anmerkung zum Verteilnetz. Deshalb verwundert es schon, dass bisher niemand vergleichend die Inhaltsstoffe am Anfang und am Ende des kommunalen Transportstrangs analysiert hat. Zumindest war die Trübungszunahme bisher in keiner der öffentlichen Diskussionen ein Thema.
Ob das RWW die Zahlen kennt, kann nur spekuliert werden. Erst die Unterlagen der Gesundheitsbehörde haben auf diesen Kontaminationspfad aufmerksam gemacht und als eventuellen Grund eine zu lange Verweilzeit in den Trinkwasserkanälen der langjährigen Industriebrache Zeche Fürst Leopold hervorgebracht. Demnach scheint es sehr empfehlenswert zu sein, von Seiten der Sachverständigen einmal im Trüben zu fischen. Als Industriebrache dümpelt das Gelände heute nicht mehr vor sich hin. Auf ihm entstand das „CreativQuartier Fürst Leopold“ für Kunst, Kultur und Gastronomie.
IWW mit Forschungsauftrag
Korrosion ist in der Regel nicht auf einen einzigen ungünstigen Faktor zurückzuführen. Im Allgemeinen müssen mehrere zusammentreffen. Das jetzt gestartete Forschungsprojekt beim IWW Rheinisch-Westfälisches Institut für Wasserforschung, Mülheim/Ruhr, sucht ebenfalls nach den Ursachen. Der DVGW finanziert das Forschungsprojekt. Das IWW-Zentrum Wasser zählt zu den führenden Instituten in Deutschland für Forschung, Beratung und Weiterbildung in der Wasserversorgung. Die Einrichtung ist ein An-Institut der Universität Duisburg-Essen. Die Leistungen der sechs Geschäftsbereiche Wasserressourcen-Management, Wassertechnologie, Wassernetze, Wasserqualität, angewandte Mikrobiologie sowie Wasserökonomie & Management werden von Versorgungsunternehmen, Industrie, Abwasserverbänden, öffentlichen Einrichtungen und Behörden in Anspruch genommen.
Angelika Becker leitet den Bereich Wassernetze, der mit dem IWW/DVGW-Projekt mit dem Titel „Schäden durch Kupferlochkorrosion in Trinkwasser-Installationen“ betraut ist. Die Bewilligung läuft zunächst bis Oktober und zwar für das Teilprojekt „Neuartige Schäden an halbharten Kupferrohren“ (siehe Kasten „Das IWW/DVGW-Projekt“). In Mülheim geht man jedoch nicht davon aus, dass sich der eigentümliche Korrosionsvirus ausschließlich in der Region Holsterhausen tummelt. Was wahrscheinlich ist, denn ein Leitungsrückbau dürfte versorgerweit mehr die Ausnahme als die Regel sein. Die Öffentlichkeitswahrnehmung der Rohrbrüche im Münsterland ist in erster Linie auf spektakuläre Fälle mit Schadenshöhen im Hunderttausend-Euro-Bereich zurückzuführen.
Das IWW/DVGW-Projekt
Neuartige Schäden an halbharten Kupferrohren – Online geht das IWW Informationszentrum Wasser auf seiner Homepage auf die Arbeit ein. Ein Auszug: „Seit etwa 2003 bis 2005 werden vermehrt Schäden an Trinkwasser-Installationen festgestellt, in denen halbharte Kupferstangenrohre (R 250) verarbeitet wurden, teilweise auch in Versorgungsgebieten, die bisher als nicht schadensauffällig galten. Schäden wurden bisher nur an Rohren, nicht an Fittings festgestellt.
Bei den neuen Schäden wurden einige Besonderheiten beobachtet, die insbesondere die Intensität der Schäden (hohe Anzahl von tiefen Löchern und Perforationen), die Einbauposition der Kupferrohre – es sind waagerecht verlegte Rohre und Steigleitungen betroffen – und die Morphologie der Lochfraßstellen betreffen. Zudem treten die Schäden gleichermaßen im Kaltwasser- wie im Warmwasserbereich auf. Die Abdeckung der Lochfraßstellen gleicht optisch und in der Zusammensetzung der Korrosionsprodukte zwar derjenigen, die bei Lochkorrosion Typ 1 beziehungsweise Typ 2 bisher üblicherweise detektiert wurden.
Was bisher im Trinkwasser nicht beschrieben worden ist, ist die Struktur der Angriffsstellen. Die Angriffe weisen unter Anfangskorrosionsbedingungen feine Verästelungen auf bis hin zu tunnelartigen Verzweigungen, die sich zu einem signifikanten unterhöhlenden Angriff ausdehnen können. Hinreichende wissenschaftliche Erklärungen oder Modellvorstellungen, die die Ursache dieser Schäden erklären könnten, existieren momentan nicht, sind aber für die Abschätzung der Korrosionsgefährdung notwendig. Insbesondere die Frage der Initiierung von Lochkorrosion als dem primären Prozess des Lochwachstums ist weitgehend ungeklärt.
Ziele des Forschungsvorhabens sind deshalb die Aufklärung der Ursache der Schäden und die Erarbeitung von Maßnahmen zur Vermeidung zukünftiger Schäden. In einer ersten Phase des Forschungsprojektes sollen die teilweise nur rudimentär vorliegenden Informationen zusammengetragen und eine systematische Bestandsaufnahme der Schäden durchgeführt werden. Hierzu erfolgt zunächst eine Erhebung der Schäden und der schadensauffälligen Versorgungsgebiete durch eine bundesweite Umfrage in der Wasserversorgung über die DVGW-Mitgliedsunternehmen. Parallel hierzu wird eine Bewertungssystematik für die Untersuchung schadhafter Kupferrohre erarbeitet und nach Typisierung und Klassifizierung der Schäden die Ergebnisse in Form einer Multifaktorenanalyse bewertet. Zur statistischen Absicherung der Daten ist IWW über die bereits zur Untersuchung zur Verfügung stehenden Rohre hinaus auf der Suche nach weiteren geschädigten Rohren, um die Untersuchungen und Erhebung von Informationen auf eine möglichst breite Basis zu stellen.“